Eine Lustfantasie? Ein Angriff auf die bürgerliche Moral der 90er? Ein verklemmtes Spiel mit der Sexualität? Was ist Stanley Kubricks letzter Film wirklich?
Es gibt kaum einen Film, der so schwer in Worte zu fassen ist, wie `Eyes Wide Shut`. Wir als Zuschauer sind hier nicht nur zu einfachen Voyeuren, unsere eigenen Erfahrungen, unser innerstes Selbst formt den Film mindestens so stark, wie Kubrick es selbst tut. Seine größte Leistung als Regisseur ist es, uns mit einzubeziehen. Dies schafft er auf rein technischem Wege. Sein Kamerabild bietet fast hypnothische Qualitäten. Schon gleich zu Anfang, auf einer Weihnachtsparty, entzieht er uns der rationalen Denkweise. Während hier Alice mit einem älteren Verehrer tanzt, der sie verführen möchte, folgt die Kamera in einer Halbnahen. Die beiden Gesichter streifen hierbei immer wieder die grell-leuchtende Weihnachtsdekoration. Das daraus relutierende Spiel aus grellem Aufleuchten und wieder Verschwinden entzieht uns der mitdenkenden Aufmerksamkeit, das Gespräch wird von uns rein emotional verarbeitet.
In dieser Position werden wir den ganzen Film über zurückgelassen. So folgen wir Bill auf seinem Weg durch die unwirklich erscheinende Welt des nächtlichen New Yorks, und treffen auf Archetypen sexueller Fantasien. Durch unsere Unfähigkeit, einen rein rationalen Standpunkt zu wählen, verlangt er von uns Entscheidungen auf der Basis unseres Inneren. Wir werden mit Extremsituationen aus unserer Fantasie, oder auch aus unseren Ängsten konfrontiert. So trifft nicht nur Bill auf eine kleine Nymphe, eine Hure und eine ganze Orgie. Wir werden ebenso mit diesen vorerst einfach erscheinenden Erscheinungsformen unserer Sexualität konfontiert. Und so offenbaren sich innere Standpunkte, vielleicht sogar gesellschaftliche Perversionen, die wir ansatzweise trotz unserer Erziehung in uns tragen. Vielleicht aber zeigen wir uns vor dem Auge der Gesellschaft auch als prüde und rückständig. Wer weiß...
Hinter dieser Odysee steckt eine der ganz großen technischen Meisterleistungen. Der schon immer als Techniker bekannte Kubrick nutzt alle filmischen Mittel, um uns Zuschauer als Entscheidungsorgan zu etablieren. Dies fängt mit dem immer wiederkehrenden Symbol des halb lodernd-rot, halb eiskalt-blau ausgeleuchteten Janusgesicht Bills an und endet mit der Szene, die aus dem Trailer schon allzu bekannt sein sollte: Vor einem Spiegel –ein Symbol, das vor allem bei Alice, die über Träume in sich selbst blickt, immer wiederkehrt- fangen Bill und seine Frau mit einem liebevollen Vorspiel an, während uns eine rauhe Männerstimme über die Musik mitteilt: "They did a bad, bad thing". Wir werden immer vor mindestens zwei Möglichkeiten der emotionalen Aufarbeitung der Geschehnisse gestellt.
Hinzu kommt die äußerst rauhe Montage, die uns bewußt macht, daß wir hier mit Momentaufnahmen konfrontiert werden. Ebenso schwanken die einzelnen Szenen in ihrer Stilsetzung sehr stark. Von naturalistischer Ausleuchtung und Kameraarbeit, bis hin zur extremen Stilisierung durch Farbfilter und Tonverfremdung ist alles dabei. Nur das immerwährende, grobkörnige Filmmaterial zeugt von einer gewissen Kontinuität.
Dies aber zeigt auch die fatale Schwäche von `Eyes Wide Shut`. Da der Film fast ausschließlich mit Männerfantasien und –ängsten arbeitet, werden Frauen ihn vor allem als Erotik-Thriller auffassen (man korrigiere mich bitte, wenn ich hier falsch liege). Durch seine Umsetzung läßt es der mit 155 Minuten Lauflänge ohnehin schon zu lange Film an vielem fehlen, was zu einem Thriller eben dazugehört: Spannungsbögen werden nicht zu Ende geführt, viele Handlungsteile nicht einmal aufgelöst. Wer sich nicht mit den Träumen, die bei dieser Odyssee zwischen Realität und Traum, Innen und Außen, aufkommen, identifizieren oder auseinandersetzen kann, bleibt außen vor. Dann findet man sich bei diesem anti-intellektuellen Meisterwerk dann doch da wieder, wo fast jeder bei `Shining ` und `Full Metal Jacket` - den beiden letzten Filmen Kubricks, die versuchten, Aspekte der menschlichen Seele, intellektuell zu abstrahieren - war: Vor einem Labyrinth, welches am ehesten die Frage aufwirft, ob hier jemand besonders intelligent wirken wollte, denn den Menschen selbst wiederzuspiegeln.
Jeder andere aber wird von Kubrick durch das innere Labyrinth seiner eigenen Gefühle geführt und erfährt etwas über sich selbst. Nur sehr wenige Filme konnten bisher so etwas erreichen.
Knut B.
Zwölf Jahre liegen zwischen Stanley Kubricks Vietnam-Drama "Full Metal Jacket" und seinem neuestem und letzten Epos "Eyes Wide Shut". Kein Zweifel: Der nur wenige Tage nach der angeblichen Fertigstellung seines Films im März verstorbene Meisterregisseur war ein Perfektionist, wie er im Buche steht. Denn Kubrick nahm sich das, was man in Hollywood am wenigsten besitzt: viel Zeit. 15 lange Monate dauerten die Dreharbeiten für "Eyes Wide Shut", in deren Verlauf zwei Darsteller – Harvey Keitel und Jennifer Jason Leigh – das Projekt verlassen mussten.
Der Film basiert auf Arthur Schnitzlers "Traumnovelle", einem 1926 erschienenen und im Wien der Jahrhundertwende angesiedelten psychologischen Roman mit Freudschen Anklängen. Kubrick verlegte die Handlung ins zeitgenössische New York, ohne aber Tenor und Tonfall des Romans markant zu aktualisieren: Es geht dabei, die Spatzen pfeifen es längst von den Dächern, um Sex und Treue zwischen Ehepartnern. Kubrick war offenbar der Überzeugung, dass sich auf diesem Gebiet in den letzten 70 Jahren nichts Bedeutendes verändert hat. Wer diese – milde ausgedrückt exzentrische – Prämisse teilt, mag an dem Film durchaus Gefallen finden.
Es geht also um Sex und Seitensprünge, doch diese finden – entgegen aller sprießenden Gerüchte und Legenden – nur in den Köpfen der Figuren statt. Der Film ist ein in Blau und Rot getauchter Wachtraum um verpasste Chancen und intime Begierden. Bills Streifzug durch das (in England nachgebaute) nächtliche New York ist an beinahe jeder Ecke mit Versuchungen durchsetzt, und Kubrick läßt es sich nicht nehmen, dabei auch Spielarten wie Pädophilie, Homosexualität und Nekrophilie wenigstens anzudeuten. Dann aber folgt die reuevolle Rückkehr in den Schoß von Ehefrau und Tochter.
Wer nur ins Kino geht, um Nicole Kidman und Tom Cruise – die beiden sind bekanntlich auch privat ein Paar – bei Liebesspielen zu begaffen, ist hier ganz offensichtlich fehl am Platz: In Sachen Sex und nackter Haut ist "Eyes Wide Shut" nicht freizügiger als das, was tagtäglich über die Fernsehschirme flimmert. Absurd und lächerlich erscheint deshalb der Ringelpiez um die inzwischen legendäre, weil in den USA mit digitalen Kunstfiguren nachzensierte "Orgienszene": Selbst in der unzensierten Euro-Fassung ist die berüchtigte Sequenz recht harmlos und geschmackvoll anzusehen – das deutsche Kinopublikum ist, zuletzt durch Lars von Triers "Die Idioten", ganz anderes gewöhnt.
Kritiker Kubricks werten seine Filme oft als kalt und analytisch, in "Eyes Wide Shut" jedoch erscheint der Filmemacher regelrecht als Moralist mit Sinn für tränenreiche Szenen. Unter der Oberfläche seines 145 Minuten langen Werks, das viele unvorbereitete Kinogänger als "todlangweilig" charakterisieren dürften, wird ein subtiles Kräftemessen zwischen Gut und Böse ausgetragen. Es geht dabei erneut um das zentrale Leitmotiv in Kubricks Filmen: die Entmenschlichung der Gesellschaft und den Verlust von Emotionen. Nicht zufällig verstecken sich die dekadenten Orgiengäste hinter ihren Masken und sprechen kaum ein Wort: Intimität wird so zum anonymen Ritual, der sexuelle Höhepunkt mutiert zum seelenlosen Akt der inneren Vereinsamung.
"Bleib treu!", lautet das Credo dieses Films. Das wird in jener Szene überdeutlich, in der Tom Cruise alias Bill den Verlockungen einer Prostituierten zu erliegen droht. Der gute Bill aber bleibt standhaft, und so viel Treue wird belohnt. Am nächsten Tag stellt sich heraus: die Hure hatte AIDS.
Der episodisch aufgebaute und mit einer streckenweise surrealen Trägheit inzenierte Plot entpuppt sich als verfilmter Wachtraum jenseits unserer Alltagsrealität. Nicht das New York der 90er Jahre wird gezeigt, sondern eine Melange aus Stilen und Epochen, subtil versetzt mit Anspielungen auf frühere Werke des Regisseurs: Vorahnungen und Reflexionen bestimmen, wie in einem Traum, die von Kubrick bis ins Detail durchkomponierten Bilder. Die Dialoge – mitunter wie in Zeitlupe gesprochen – wirken dabei oft wie Relikte einer vergangenen Epoche.
Formal ist "Eyes Wide Shut" ganz zweifellos ein großer Wurf: Die mit mathematischer Präzision ausbalancierte Struktur mäandert stilsicher zwischen intimen Dialogpartien und weiten Räumen wie den opulenten Party-Szenen. Jede Einstellung wurde minutiös geplant, jede Kameraperspektive akribisch ausgetüftelt. Den Räumlichkeiten wurden zudem eigene Grundfarben zugewiesen, und die effektvolle Klaviermusik verstärkt nur noch den Eindruck, dass Kubricks Leinwandhelden offenen Auges träumen.
Gilles Deleuze, ein intellektueller Kritiker, glaubte in Kubricks Werken Organismen zu erkennen, die an der Welt, mit der sie eigentlich in Einklang sein sollten, scheitern. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so sind die Kommandozentrale in "Dr. Seltsam", der Computer HAL in "2001", das Overlook Hotel in "Shining", die Rennstrecke in "The Killing" und das Ausbildungs-Camp in "Full Metal Jacket" solche Organismen, die nicht mehr funktionieren, weil das System zusammenbricht, das sie mit ihrer Welt im Einklang bringen soll. Tod und Vernichtung oder Wahnsinn sind die Folgen.
In "Eyes Wide Shut" ist Kubricks Organismus keine einzelne Person und keine Gruppe, sondern ein Ehepaar, dessen gemeinsames Erleben dadurch in Gefahr gerät, dass sexuelle Triebe ihre Liebe und die damit verbundenen Emotionen zu zerstören drohen. Es gilt, den kafkaesk-paranoiden Tagtraum aus Eifersüchteleien und Begierden zu entwirren und die Balance zwischen Traum und Wirklichkeit zu wahren. Kurzum: Hüte Dich vor Deinen Fantasien – sie könnten in Erfüllung gehen!
Wer solche intellektuellen Spielchen weder amüsant noch fesselnd findet, dürfte mit diesem Film Probleme haben. Zumal noch unklar ist, in wie weit "Eyes Wide Shut" tatsächlich ganz allein von Kubrick stammt. Fakt ist: Die wenige Tage vor dem Tod des Regisseurs gezeigte letzte Fassung war noch ein Rohschnitt mit unfertiger Tonmischung. Vermutlich hätte Kubrick, der "2001" und "Shining" sogar noch nach dem offiziellen Kinostart der Filme nachgebessert hatte, auch "Eyes Wide Shut" noch bis zur letzten Minute optimiert.
Die Essenz des Werks hätte sich dadurch freilich kaum geändert. Aus diesem Grund ist "Eyes Wide Shut" zwar Stanley Kubricks allerletzter Film – doch nicht sein allerbester.
Land: Großbritannien
Jahr: 1999
Genre: Thriller
Länge: 155 Minuten
FSK: 16
Kinostart: 09.09.1999
Regie:
als Dr. William Harford,
Verleih: Warner Bros.